Page 6 - gefaehrliche_gezeiten
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Kapitel 1
Ein neuer Sonnenaufgang, gut 600 Seemeilen westlich von
Kap Finisterre, weit draußen im Atlantik. Diese Stunde ist
Fabians Lieblingszeit. Jedenfalls auf See, denn an Land wür-
de er den Sonnenaufgang zuverlässig verschlafen.
Voraus ist es heller geworden, zunächst fast unmerklich.
Die Sterne vor dem Bug vergehen nach und nach. Schon
kann Fabian in der weichenden Dunkelheit schemenhaft
einzelne Wellen erkennen. Das Schwarz der See verblasst,
erst zu einem dunklen, schweren Bleigrau, danach schleicht
sich das Blau in die Farbe der See, und alles ringsherum wird
freundlicher.
Nicht, dass die Nacht auf See unfreundlich gewesen wäre,
im Gegenteil. 600 Meilen vom nächsten Land entfernt ist es
ruhig und friedlich. Die Melodia zieht, von ihrer Windfah-
ne wie von Geisterhand gesteuert, beständig ihre Bahn durch
den Atlantik. Jedenfalls solange Fabian nicht mit einer plötz-
lichen Schauerbö kämpfen oder einem Schiff ausweichen
muss oder wegen anderer Überraschungen aus seinen kur-
zen Schlafphasen gerissen wird.
Es ist nicht selbstverständlich, dass die Melodia so un-
bekümmert ihren Kurs durch den Ozean furchen kann, das
Wasser zerteilend, immer weiter, ein Schäumen am Bug und
eine kurze Blasenspur von in der Dunkelheit grünlich schim-
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